Vortrag zum zehnjährigen Bestehen des Partnerschaftsvereins Kriftel-Airaines. Revidierte Fassung 2016
„Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, / Doch ihre Weine trinkt er gern.“ So lässt Johann Wolfgang Goethe einen Zecher in Auerbachs Keller in Leipzig antworten, dem der Teufel in Gestalt des Mephistopheles gerade einen Wein nach Wahl angeboten hat.
Selten hat das Wort eines akademischen Suffkopfs, dem es kurz darauf mit seinen studentischen Kumpanen „ganz kannibalisch wohl, Als wie fünfhundert Säuen“ sein wird, eine solche Karriere gemacht wie dieses. Es wurde ein geradezu klassisches Zitat, da der „Faust“ ganz unkritisch und daher meist unaufmerksam als deutsche Nationaldichtung gelesen und interpretiert wurde. Der kritisch-ironische Unterton des nicht nur in solchen Dingen souveränen Geheimrates Goethe wurde oft überhört und vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert der Ausspruch als Ausdruck der unverbildeten deutschen Volksseele verstanden, die bei allem unbekümmerten Lebensgenuss doch das Grundverhältnis von Deutschen und Franzosen verinnerlicht habe. ‚Der Franzose’ galt als Erbfeind und ein guter Deutscher konnte nur sein, wer das Schlechte, Fremde, Französische nach Möglichkeit mied[1] und die Franzosen hasste.
Dass ein kritisches Wort so missverstanden und zum Sprichwort werden konnte, lag natürlich auch daran, dass der Autor Goethe mit ihm (ironisch, aber das wollten nicht alle merken!) eine Stimmung aufnahm, die im späten achtzehnten und beginnenden 19. Jahrhundert vor allem im Bildungsbürgertum und im Adel verbreitet wurde und daher verbreitet war. Aus Frankreich war in der (nicht selten von interessierter Seite manipulierten!) Erinnerung in den beiden Jahrhunderten zuvor alles Übel gekommen.
Frankreich hatte von dem unseligen Religionskrieg, der vor allem in den deutschen Ländern wütete und dreißig Jahre währte, in Europa am meisten profitiert, es war groß und stark und auch kulturell eine Vormacht geworden und die neue Situation nach Kräften ausgenutzt, wie alle Mächte das bis heute tun. Unter Ludwig XIV. hatte es mit juristischer List (die „Reunionspolitik“ in der Tradition der „Rekuperationen“) und militärischen Aktionen, unter denen alle deutschen Gebiete links und manche auch rechts des Rheins Schlimmes zu leiden hatten, seine Grenzen weit über die Sprachgrenze nach Osten vorgeschoben.
In Frankreich war 1789 die, wie man später in Deutschland vorwiegend empfand, gottlose Revolution ausgebrochen, die die deutschen Länder (ich formuliere so allgemein, weil das Deutsche Reich in dieser Zeit noch fraglos auch die österreich-ungarischen Länder einschließlich Böhmen und Mähren umfasste!) in eine tiefe politische, soziale und mentale Krise stürzte. Aus Frankreich waren in der Folge der Revolution erst ohne, dann mit Napoleon die Heere nach Osten aufgebrochen und hatten dem ‚lieben, heil’gen Römischen Reich’[2], das rund 1000 Jahre bestanden hatte, den Garaus gemacht und die europäischen Grenzen und Herrschaftsverhältnisse völlig durcheinander gewirbelt. (Wer erinnert sich in Deutschland heute noch daran, dass man 1803, wenn man wie Madame de Staël, von der später noch die Rede sein wird, von Westen her nach Deutschland reiste, die Grenze zum Beispiel bei Mainz und erst mit dem Rhein überschritt?)
In Frankreich hatte sich dann im 19. Jahrhundert – mit vielen Konflikten und Brüchen, wie immer in solchen historischen Umbruchszeiten (das zweite französische Kaiserreich unter Napoleon III. war zu einer autoritären Militärmonarchie geworden) – aus der Revolution und der Regierung Napoleons eine Vorstellung von Rechtsstaat herausgebildet, die für andere Nationen, auch für die sich allmählich in der sogenannten ‚kleindeutschen’ Lösung herausbildende deutsche, vorbildlich wurde, aber auch dies nur mit großen Schwierigkeiten, da der demokratische Rechtsstaat von den Monarchisten aller Couleur und dann von den Nationalisten gerne als degeneriert, als ‚übel französisch’ und daher als völlig ‚undeutsch’ diffamiert wurde.
Und für all diese wirklichen oder vermeintlichen üblen Erfahrungen (es kommt ja immer auf den Standpunkt an – die deutschen Jakobiner und frühen Demokraten zum Beispiel waren gar nicht so schlecht auf die Errungenschaften in Recht und Politik zu sprechen, die die napoleonische Herrschaft in Deutschland eingeführt oder doch zumindest vorstellbar gemacht hatten), für dieses Konglomerat also aus häufig schiefen Erinnerungen und unerschütterlich gewordenen Vorurteilen meinte man in Goethes (man erinnere sich: einem nicht mehr ganz nüchternen Stammtischbruder in den Mund gelegtem!) „Faust“-Zitat eine durch den Dichterfürsten beglaubigte und das deutsch-französische Verhältnis endgültig auf den gemeinsamen Nenner der Unvereinbarkeit gebrachte Zusammenfassung zu haben.
In Frankreich meinte man ähnliche Erfahrungen mit dem östlichen Nachbarn gemacht zu haben und immer neu machen zu müssen. Nur sind diese Erfahrungen und die daraus hervorgegangenen Urteile und Vorurteile um viele Jahrzehnte jünger und daher noch relativ leicht aktualisierbar. Man hatte in Frankreich zum Beispiel die Erwerbungen in der Zeit Ludwigs XIV. und die dadurch erweiterten Grenzen in fast zwei Jahrhunderten als schon immer gegebene und daher natürliche erfahren. Die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts meist erfolgreichen Bestrebungen Napoleons III., Frankreich wieder zu einer europäischen Großmacht zu machen (erinnert sei an den Krimkrieg und die gegen Österreich erfolgreiche Politik in Italien), und die gleichzeitige Erweiterung des französischen Territoriums durch neue Kolonien schienen diesen Eindruck zu bestätigen und vertieften ihn dadurch. Nachlassende Erfolge in den sechziger Jahren bewogen den französischen Herrscher, nun seinerseits die antideutsche Karte zu ziehen und den Konflikt mit dem ‚Erbfeind’ zu suchen.
Die unmittelbaren Gründe, die zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71 führten, sind etwas verwickelt (es ging um die spanische Thronfolge, die einem Hohenzollernprinzen angeboten worden war und die Frankreich, eine prekäre Situation wie im 16. Jahrhundert fürchtend, nicht akzeptieren wollte und konnte), aber man kann sagen, dass Frankreich den Krieg nicht vermeiden und Bismarck den Krieg mit der berühmten Emser Depesche aus innenpolitischen und aus Gründen der zu gewinnenden Reichseinheit provozieren wollte.
Das Ergebnis ist bekannt – und es war für viele Franzosen ein innen- wie außenpolitischer Schock. Innenpolitisch, weil der Übergang von der Monarchie zur Republik nur in großen Auseinandersetzungen bewältigt werden konnte, die im von den republikanischen Truppen blutig niedergeschlagenen Aufstand der Commune de Paris gipfelten, ein Ereignis, das die französische Innenpolitik über Jahrzehnte bis zum Biegen und Brechen belastete. Außenpolitisch, weil das siegreiche Preußen und seine süddeutschen Verbündeten nicht nur in einer die Franzosen insgesamt demütigenden Feier im Spiegelsaal von Versailles ihr neues Deutsches Kaiserreich ausriefen, nicht nur weil es den Unterlegenen die ungeheure Summe von 5 Milliarden Francs als Reparationen abnötigte (gelagert im später so berühmten ‚Juliusturm’), sondern vor allem, weil es Lothringen und das Elsaß annektierte (und es dann auch noch schaffte, die dortige, überwiegend deutschsprachige Bevölkerung durch eine als arrogant und brutal empfundene Kolonialpolitik ihrer Tradition zu entfremden und in Frankreich das verlorene Vaterland zu sehen).
Das hatte wiederum ein Doppeltes zur Folge.
Erstens: Im neu geschaffenen Zweiten Kaiserreich der Deutschen konnte jede radikaldemokratische oder auch nur ‚linke’ Bestrebung, die sich bald in der Sozialdemokratie zur politischen Kraft konstituierte, mit dem Hinweis auf den Aufstand der Commune als staatsgefährdend und dazu noch als ‚undeutsch’ stigmatisiert und desavouiert werden. Die Sozialistengesetze und die darauf einsetzende Verfolgung der Sozialdemokratie waren die in der deutschen Politik lange wirkenden Ergebnisse. Das andere war, dass in den folgenden vier Jahrzehnten sehr wechselvoller französischer Innen- und Außenpolitik alle sonst noch so unterschiedlichen politischen Kräfte in einem einig waren oder auf dieses eine Ziel jederzeit eingeschworen werden konnten, auf das Ziel nämlich, die von Deutschland annektierten (wiedergewonnenen deutschen – so sah man es in Deutschland einhellig und nicht ganz zu Unrecht), in Frankreich aber, wie dargestellt, als urfranzösisch angesehenen Gebiete Elsass und Lothringen wiederzugewinnen. Dass in den so konträren Bestrebungen in Frankreich und Deutschland ein ungeheures Konfliktpotenzial lag, brauche ich nicht auszuführen. Kennzeichnend war, dass man in Deutschland in der gesamten Zeit der hohenzollerischen Kaiser jeweils am zweiten September mit großem Pathos den „Sedanstag“ feierte, also den Tag der Kapitulation der französischen Truppen 1870, mit dem die deutsche Einheit ermöglicht worden war und die deutsche Überlegenheit besiegelt schien. In Frankreich hingegen wurde es zu einer Sache der nationalen Ehre, dass in jeder Stadt von einiger Größe eine wichtige Straße in Rue oder Avenue d’Alsace-Lorraine umgetauft wurde; man kann das heute noch nachprüfen, denn nach der Rückaneignung der Gebiete (mitsamt ihrer durch den mehrfachen Wechsel mehr als geplagten Bevölkerung) nach dem ersten Weltkrieg behielten die Straßen und Avenuen ihren Namen als Zeichen der Erinnerung an die früheren Verluste und des nun errungenen Triumphes.
Damit ist das nächste Stichwort gefallen: Der erste Weltkrieg. Dass die europäischen Nationen in diesen Krieg, der Millionen Menschenleben forderte, mehr oder weniger ‚hineingeschlittert’ seien, ist ein berühmtes, inzwischen geflügeltes Wort des englischen Premiers Lloyd George. Darauf haben sich viele Politiker, aber auch Historiker lange bequem beziehen können, noch 1958 schrieb der Historiker Golo Mann, der Ausbruch dieses Gemetzels habe „etwas von Selbstentzündung an sich“ gehabt, nicht ohne mit berechtigter Ironie hinzuzufügen, dass alle Beteiligten sich im Recht glaubten, dass alle sich angegriffen und als Opfer fühlten und dass es alle „schön“ fanden, „angegriffen zu sein“. Erst der (gegenüber Golo Mann) jüngere und mit seiner These lange umstrittene Historiker Fritz Fischer hat deutlich gemacht, dass die antreibende Kraft doch eher das deutsche Kaiserreich mit seinem „Griff nach der Weltmacht“ war. Dass es in Frankreich und Deutschland zwar nicht allein um Elsass-Lothringen ging, aber eben auch darum, weil die beiden Gebiete zum Symbol geworden waren, hat der große Philosoph Max Scheler in einem 1915 erschienenen Buch niedergelegt, das den bezeichnenden Titel trug: „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“. Er schrieb (nicht ohne europäisch-deutsche Arroganz): „Dieser Krieg ist gerecht schon darum […], weil er ein durch und durch politischer Krieg ist – und gar nicht an erster Stelle durch ‚ökonomische’ Ursachen bestimmt, wie zum Teil die letzten Kolonialkriege, – ein Krieg um die Macht im Herzen der Welt‚ – ja um das Herz des Herzens der Welt, um die Hegemonie in Europa. Er ist gerecht, weil gleichzeitig höchst charakteristische und große, historisch bewährte Kulturideen hinter den kämpfenden Mächten stehen.’“
Diesen Tönen will ich kurz nachgehen, denn sie zeigen, dass aus dem geschichtlich gewordenen Interessenkonflikt und dem daraus entstandenen Gegensatz zweier europäischer Brudernationen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein Ringen um die angeblich bessere Moral, ja geradezu ein (pseudo-) religiöser Konflikt konstruiert worden war – auf beiden Seiten.
Ich will gar nicht weiter reden von der auch in der Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende zu spürende Friedensmüdigkeit, die junge Menschen in vielen europäischen Nationen im Krieg geradezu eine Erlösung spüren ließ. (Nachzulesen zum Beispiel in den Lebenserinnerungen des Rheinhessen Carl Zuckmayer!) Auch dass so berühmte und hoffnungsvolle Maler wie zum Beispiel August Macke und Franz Marc, aber auch der Altgermanist und Dichter Ernst Stadler freiwillig und begeistert in den Krieg zogen, in dem sie alsbald erst ihre Illusionen verloren und dann ihr Leben, mag als ein Beispiel dafür genügen.
Wie schmerzvoll zerreißend der Krieg für einen jungen Mann war, der als Sohn einer südfranzösischen Mutter und eines schwäbischen Vaters in beiden Nationen und Kulturen aufgewachsen war, will ich am Beispiel eines Wissenschaftlers und Politikers zeigen, der in der Geschichte Deutschlands nach 1945 eine bedeutende wissenschaftliche (in Frankfurt am Main) und politische Rolle (als einer der Väter des Grundgesetzes und in der Bonner Politik) spielte.
Er schreibt in seinen „Erinnerungen“ über die Zeit vor dem Ausbruch des Krieges:
„Die Uniform hatte in jenen Jahren ein Prestige, das sie in Deutschland nie mehr erhalten wird. Auf den Jahresschlussfeiern des Gymnasiums erschienen die Väter, die Reserveoffiziere waren, im Strahlenglanz ihrer Montur, mit Feldbinde, Degen und Helm. In jedem Ort gab es einen Veteranenverein, der am Sedanstag in Gehrock und Zylinder in Reih und Glied zur Kirche zog, Stock und Schirm wie Degen geschultert; auf der Brust klapperten die Medaillen.
In der Schule trat dieser Geist in entsprechender Weise an uns heran. Es war fast unmöglich, dem Flottenverein nicht anzugehören, der uns jährlich einen Kalender bescherte und Lichtbildervorträge anbot, aus denen hervorging, dass Deutschlands Zukunft auf dem Wasser liege. […] In dem Kalender war zu lesen, dass England uns den Platz an der Sonne streitig mache, und in den Missionskalendern, die nicht viel anders aufgemacht waren, stand geschrieben, dass ein getaufter Eingeborener für unsere Kolonien mehr wert sei als hundert Götzenanbeter.
Doch nichts war mit der Zeppelinbegeisterung zu vergleichen, die im Lande des Grafen Zeppelin, in Württemberg also, besonders turbulent war. […] Graf Zeppelin und sein Luftschiff wurden zu Symbolen deutscher Geisteskraft, die sogar das Urgesetz der Schwerkraft zu überwinden vermochte […]“
Der junge Mann machte im Frühjahr 1914 Abitur und wollte mit seinen Freunden auf der Donau von Passau bis zur Mündung fahren. Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 machte einen dicken Strich durch die Rechnung der Freunde. Zwar fuhren sie los, zunächst nach Bamberg, um dem Dom und dem Bamberger Reiter ihre Reverenz zu erweisen, dann nach Nürnberg, in die Stadt Albrecht Dürers und Hans Sachsens.
Schon in Bamberg sahen die jungen Leute überall Kriegsvorbereitungen, in Nürnberg erfuhren sie, dass Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte. Sie beschlossen heimzufahren. Unser Autor berichtet:
„Der Zug nach Stuttgart war vollgestopft wie eine Sardinenbüchse, das Durcheinander auf dem Bahnsteig unbeschreiblich: einrückende Reservisten, vorzeitig heimkehrende Urlauber, Ausländer; die nach dem Westen wollten […] Es herrschte Unruhe, doch gab es keine Panik, und den Soldaten war nichts von Aufregung und erst recht nichts von Bedrücktheit anzumerken. Sie schienen vielmehr froh über die Abwechslung, die die ‚Lage’ mit sich brachte. Und überhaupt – was heißt schon ‚Krieg’? Sie sangen: ‚Siegreich wollen wir Frankreich schlagen’.
Von dem Vertragswerk des Dreibundes und der Entente cordiale wussten wir nur, dass es diese beiden Bündnisse gab – aber niemand von uns hatte eine Ahnung von ihren Mechanismen. Warum sollten denn unbeteiligte Mächte kriegerisch eingreifen, wenn Österreich-Ungarn von Serbien verständliche Garantien forderte und diesen Forderungen militärischen Nachdruck verlieh? Warum sollten denn die Russen gegen Österreich-Ungarn zu Felde ziehen, um eine Aktion gegen Fürstenmörder zu verhindern, mit denen der Zar doch sicherlich keine Sympathie haben konnte? Warum sollten die Franzosen uns wegen Sarajewo den Krieg erklären und gar die Briten? Kaiser, Könige und Präsidenten sind doch keine gedankenlosen Berserker!
Wir wurden eines Schlechteren belehrt.“
Ich weiß nicht, ob der Abiturient Carlo Schmid so differenziert gedacht hat, vielleicht hat der altersweise Politiker und Professor für politische Wissenschaften Carlo Schmid beim Schreiben ein wenig mitgedacht. Aber beschrieben hat er die Situation im Sommer 1914 sicher richtig. Und es ist sicher wahr, dass er, wie viele andere, die noch gar nicht wehrpflichtig waren, bei diesem ungeheuren Ereignis des Krieges dabei sein wollte und nur Angst hatte, dass der Krieg vorbei sein könnte, bevor er mitkämpfen konnte. Doch auf welcher Seite sollte er kämpfen? „Als Sohn eines deutschen Vaters war [er] Deutscher; als Sohn einer französischen Mutter, in Frankreich geboren, war [er] Franzose.“ Sein Vater stellte ihm die Entscheidung anheim und hätte ihn wohl am liebsten in der sicheren Schweiz gesehen, die Mutter sagte ihre Meinung deutlicher – und sicher schlug ihr Herz dabei schneller und lauter als sonst:
„’Deutschland ist das Land deines Vaters, und da du dich von diesem Land hast aufnehmen lassen, ist es dein Vaterland – so lange du ihm nicht abgeschworen hast. Seiner Fahne wirst du folgen. Frankreich ist das Land deiner Mutter; dieses Land solltest du auch nach dieser Entscheidung ehren. Künftig werden wir nur noch französisch miteinander sprechen, auch wenn du deutsche Uniform trägst.’“
Carlo Schmid wurde Soldat und hat den Krieg überlebt. (Die Nationalsozialisten hatten ihn aber wegen ‚weltanschaulicher und politischer Unzuverlässigkeit’ von allen Berufungen und Beförderungen ausgeschlossen!).
Es wäre einen längeren Exkurs wert, die Kriegspropaganda auf allen Seiten darzustellen und zu interpretieren, ein paar Hinweise müssen hier genügen. Dass es für viele Politiker und Intellektuelle bei diesem Krieg um die Hegemonie in Europa ging, habe ich schon erwähnt. Aber es ging darüber hinaus, das habe ich auch schon angedeutet. 1915 wurde ein mehrbändiges Werk veröffentlicht, in dem berühmte deutsche Wissenschaftler fast aller Fakultäten den Krieg begrüßten und rechtfertigten – und die Kriegsziele. Der berühmte Jurist Otto von Gierke zum Beispiel schrieb unter dem Titel „Krieg und Kultur“ seinen ‚teuren Volkgenossen’ ins Stammbuch, dass durch den Krieg das deutsche Volk die verderblichen Einflüsse (als da seien: Parteienkampf, republikanische Bestrebungen, „übertriebene Bewunderung des Fremden“, Bewunderung der französischen Revolution, ‚seichter Kosmopolitismus’, Pazifismus, Materialismus, „krankhafte Genußsucht“, „Frivolität und Sinnlichkeit“, mangelnder Patriotismus, man merkt, wie viel davon dem Einfluss Frankreichs zugeschrieben werden konnte!) von außen abgeschüttelt und wieder zu sich selbst gefunden habe. Er nennt diesen ‚großartigen Aufschwung der deutschen Volksseele’ ‚ein herrliches Wunder’. Nun stehe das ganze Volk einmütig hinter dem Kaiser und den Fürsten. Und einmal in Fahrt, gerät der sonst so besonnene Juraprofessor ins große Pathos:
„Der Reichstag […] erwies sich als echte Volksvertretung und erlebte seine größte Stunde, als er in voller Einstimmigkeit alle Forderungen der Regierung, den Milliardenkredit und die Ausnahmegesetze bewilligte. Mit seinen Führern aber erhob sich einhellig das ganze Volk. Nie zuvor hat ein Volk sich so eins mit seinem Staat gefühlt, nie sich ihm mit solcher Treue hingegeben, nie seinen Fürsten, seiner Heeresleitung und seiner Verwaltung so felsenfest vertraut – wie jetzt dieses Volk von fast 70 Millionen Köpfen! Da war kein Unterschied der Stände, keiner zwischen Vornehm und Gering, Reich oder Arm, Gelehrt oder Ungelehrt, Unternehmer oder Arbeiter, Alter oder Jugend. Jubelnd folgten die zum Heer Einberufenen den Fahnen, mit stürmischer Ungeduld drängten sich die Nichtberufenen freiwillig zum Eintritt ins Heer, das die Überzahl der sich Meldenden […] nicht fassen konnte. Wer aber zu alt oder zu jung oder nicht rüstig genug für das Waffenhandwerk war, suchte in irgend anderer Weise dem Heere zu dienen und war beglückt, wenn es ihm gelang, eine Stellung zu finden, die ihn zur Mitarbeit an dem ungeheuren Werke berief. Und mit den Männern zugleich wuchsen die deutschen Frauen zu heldenhafter Größe empor und wetteiferten mit ihnen an freudigem Opfermut und vaterländischer Begeisterung.“
Ich breche hier ab und wende mich den von Gierke als notwendige Folge der völkischen Begeisterung und Besinnung erhofften und als sicher geglaubten Erfolgen zu. Er ist, wie so viele seiner Landsleute vom bald errungenen Sieg überzeugt:
„Wir wollen siegen und wir werden siegen und, wenn wir uns selbst treu bleiben, werden wir einen vollen Sieg erringen, der das Schicksal Europas in unsere Hand gibt. […] Frankreich, schon lange innerlich zerfallen und sittlich gesunken, wird für immer die Lust vergehen, nach Rache zu schreien und begehrliche Blicke auf unsere Westgrenze zu werfen. […]
Daß es deutsche Kultur sein wird, die vom Zentrum unseres Erdteils aus ihre Strahlen verbreitet, unterliegt keinem Zweifel. […] Denn allzu deutlich zeigt sich jetzt die Überlegenheit der jugendfrischen deutschen Kultur über die alternde Kultur der Franzosen.“
Das Lamento über den Sittenverfall im Deutschland der Vorkriegszeit, die unbesonnene Überlegenheitsgeste, der Wunsch nach deutscher Hegemonie sind aber nicht auf die Wissenschaft beschränkt. Auch die Kirchen und ihre Repräsentanten reihen sich ein in die Phalanx der Kriegsbefürworter und –rechtfertiger. So klagt Bischof Michael von Faulhaber; „’Die öffentliche Sittlichkeit unseres Volkes war auf dem Wege nach Paris’“ und verurteilt die „’den französischen Koketten nachgeäffte Frauenmode [als] ebenso unsinnig wie undeutsch’“. Wilhelm von Keppler, der Bischof von Rottenburg, klagt „’über die verbrecherischen Versuche, das deutsche Wesen zu verseuchen durch welsche Art und Mode, durch Einschleppung einer fremdländischen giftigen Literatur, durch würdeloses Nachäffen ausländischer Kunstnarrheiten […] Jaget über die Grenzen die Literaten, Künstler, Zeitungsschreiber, die um Geld deutsche Art verderben, deutsche Sitte verderben, Deutschland verpesten.’“ Bei manchen katholischen kirchlichen Autoren wird nun Wilhelm II. zum „’Stellvertreter Gottes’“, „er sei ‚Dolmetsch des göttlichen Willens, …ein zuverlässiger Verkünder, ein treuer Bote, ein liebenswürdiges Abbild des göttlichen Herrscherwillens.’“ Und es ist dann nicht mehr weit bis zur Identifikation des Krieges gegen Frankreich mit dem Krieg Gottes gegen die Hölle. Ein Schreiber versteigt sich zu der blasphemischen Formulierung „Gott stand auf von seinem Thron, erhob seinen diamantblitzenden Schuh und trat auf Frankreich, dass alle Felsen knirschten. Und plötzlich hörte man’s rauschen, weithin am Horizont, wie von vielen Wassern: das waren Deutschlands Heere.’“ Und was die Kriegsziele betrifft, blieb die kirchliche Predigt zwar häufig inhaltlich im Vagen, wurde dennoch nicht weniger deutlich. 1915 schrieb H. Wolf in seiner Broschüre „Unseres Volkes Stunde“:
„Ja, die Weltenherrschaft unseres lieben deutschen Volkes muss ein Zeitalter der Eucharistie […] werden, und in der Kraft dieser Speise wird jene Herrlichkeit [gemeint ist die des neuen Deutschen Reiches! W.F.] ewig bestehen, in Treue fest. Mir schwebt da ein herrliches Bild vor Augen. Ich sehe da einen herrlichen Kaisergreis im Silberhaar, vielgeprüft, aber majestätisch groß [womit auf den damals schon alten österreichischen Kaiser Franz Joseph verwiesen wird; W.F.], und neben ihm einen wettergebräunten kernfesten Herrscher in der Kraft der Jahre [worunter Wilhelm II. zu verstehen ist; W.F.], wie sie über ihren Völkern thronen, die glücklichen Zeiten durchleben, und in ihrer Mitte, da schwebt in himmlischem Glanze eine weiße Gestalt, der eucharistische Gott und Weltenkaiser. [Und damit die Zielrichtung gegen Frankreich nicht verloren gehe; W.F.:] Ja, wenn dieser Dreibund besteht, wenn diese drei Kaiser ihren Völkern gebieten, der himmlische Kaiser und die beiden Herrscher auf Erden im Schutze des Herrn: Ja, ‚lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein’.“
Selten ist die christliche Vorstellung vom dreifaltigen Gott so schamlos missbraucht worden!
Natürlich gab es auf französischer Seite ähnliche Töne. Der sozial und wirtschaftlich nicht weniger als die deutsche zerstrittenen französischen Nation verlangte der französische Präsident Poincaré zu Beginn des Krieges eine Union sacrée, eine heilige Einheit des Volkes ab, die freilich ebenso wenig Bestand hatte wie der deutsche Einheitstaumel. Und im April 1915 erschien in Frankreich eine Schrift, an deren Herausgabe auch französische Kardinäle und Bischöfe beteiligt waren: „La Guerre Allemande et le Catholicisme“. „In diesem Buch wurde gegen Deutschland der Vorwurf erhoben, es führe mit dem Krieg einen Vernichtungskampf gegen den Katholizismus und gegen das Christentum“, womit auch im ansonsten so betont laizistischen Frankreich die Religion in die Kriegspropaganda hineingezogen wurde. Natürlich blieb diese polemische Schrift nicht ohne Entgegnung durch deutsche katholische Bischöfe, die überdies beim Papst Beschwerde einlegten. Der mahnte zu Liebe und Frieden, was sollte er denn sonst machen? Man muss dabei aber bedenken, dass sich das zweite deutsche Kaiserreich in seinen Protagonisten und Handlungen nach 1871, auch um sich gegen das vorwiegend katholische Habsburgerreich abzugrenzen, als pointiert protestantisches Reich verstand und ausgab. (Der protestantische Berliner Dom war als Gegenpol zum Petersdom in Rom gedacht!). Diese Mischung aus Nationalismus und Protestantismus hatte zu erheblichen Spannungen mit dem süd- und westdeutschen Katholizismus geführt. Dieser war, insbesondere nach den Gesetzen gegen die ‚Ultramontanen’, also gegen die Kräfte im Reich, die angeblich nicht genügend patriotisch oder national gesinnt waren, sondern ihre Direktiven aus Rom bezogen, immer wieder als national unzuverlässig denunziert worden – was wiederum den gesteigerten Nationalismus in den katholischen Kriegspredigten und –schriften wenigstens zum Teil erklären mag.
Kürzen wir ab!
Wie dieser Krieg ausging, wissen wir. Beide nun umso mehr verfeindeten Brudernationen wurden in den nächsten beiden Jahrzehnten von heftigen Krisen geschüttelt, nur dass dieses Mal die Besatzungs- und Reparationspolitik vom siegreichen, wenn auch vom Krieg genauso geschwächten Frankreich ausging – mit einem ähnlichen Ergebnis wie fünfzig Jahre zuvor umgekehrt: ökonomisch nutzlos, politisch verfehlt, mental eine Katastrophe. Denn nun konnten die Nationalsozialisten, die alsbald in Deutschland eine starke politische Kraft wurden, anknüpfend an die bösen Erfahrungen der Rheinlandbesetzung die alte Feindschaft übernehmen und für ihre Zwecke ausnutzen, genauso wie sie die Religion und ihre tradierten Vorurteile ausnutzten, den Kapitalismus mit seinen ökonomischen Möglichkeiten wie den Antikapitalismus mit seinen sozialen Versprechungen.
Auch die Kriegspropaganda auf beiden Seiten ist den Älteren unter uns noch in den Ohren, den Jüngeren noch vor Augen. Die Verführbarkeit der Menschen durch den Antisemitismus auch in Frankreich wird allmählich auch dort wieder erkannt und in seinen schrecklichen Auswirkungen anerkannt, auch wenn das für die französische Öffentlichkeit schmerzlich zu bekennen ist.
Am 8. Mai 1945 stand Deutschland vor dem Scherbenhaufen seiner Geschichte, Frankreich feierte, zutiefst verunsichert und von den siegreichen Alliierten USA, Sowjetunion und Großbritannien mehr gelitten denn als gleichwertig angesehen, einen bitteren Triumph über den ‚Erbfeind’. Die gemeinsame, oft bittere Geschichte der beiden Brudernationen schien an das Ende eines unaufhebbaren Hasses gekommen. Kaum jemand konnte sich damals ein weiteres Nebeneinander vorstellen, geschweige denn ein Miteinander.
Wer Deutschen oder Franzosen 1945 hätte sagen wollen, was später normal sein würde, der hätte auf beiden Seiten als obskurer Phantast gegolten, und das wohl mit einigem Recht!
Lassen Sie mich, da wir heute das zehnjährige Jubiläum des Bestehens des Partnerschaftsvereins Kriftel-Airaines feiern, beispielhaft zwei Ereignisse erwähnen, die – persönlich von sehr unterschiedlichem Gewicht, aber historisch beide an ihrer Stelle bedeutsam – am 13. und 14. Juli 2007 in Airaines und Briquemesnil-Floxicourt bei Airaines stattfanden. Wer sie 1945 hätte prophezeien wollen, wäre vermutlich in psychiatrischer Behandlung gelandet, wenn nicht verprügelt worden.
Meine Frau und ich waren beim Partnerschaftsfest beim Ehepaar Marie-France und Jean-Jacques Stoter untergebracht, denen wir ein Jahr zuvor als Gastgeber in Kriftel zum ersten Mal begegnet waren. Herr Stoter ist nicht nur Conseiller Général des Départements Somme, sondern auch Bürgermeister des kleinen Doppeldörfchens Briquemesnil-Floxicourt, von dem er gerne sagt, dass dort mehr Kühe leben als Menschen. Am Morgen des 14. Juli fand dort eine kleine Feier zur Fête Nationale am Kriegerdenkmal der Gemeinde statt. Herr Stoter lud uns beide ein, an dieser Zeremonie teilzunehmen. Wir standen also unter den schätzungsweise 40 Dorfbewohnern, die vor dem Denkmal und vor der französischen Fahne der Männer gedachten, die im Kriege pour la France gefallen waren, wie es beim Vorlesen jedes einzelnen Namens mit lauter Stimme wiederholt wurde. Und Monsieur le Maire, ein überzeugter Europäer, hielt eine kleine Ansprache, in der er die Bedeutung dieser Menschenopfer für Frankreich und Europa hervorhob und als Zeichen nicht nur für die Normalisierung des deutsch-französischen Verhältnisses, sondern für die Freundschaft zwischen den Brudervölkern unser beider Anwesenheit ausdrücklich nannte. Und ebenso selbstverständlich, wie allen unsere Teilnahme erschien, saßen wir anschließend im Bürgermeisteramt, wo man sich bei Kaffee, Kuchen und – wer wollte – Schnäpschen unterhielt, mitten unter den Menschen dieses kleinen nordfranzösischen Dorfes.
Hätte sich irgendein Mensch zwischen, sagen wir Rostock und Biarritz, 1945 eine solche Szene vorstellen können? Wir wissen es: Nein!
Und erst recht die Zeremonie am Abend zuvor in Airaines. Hätte sich irgendein Mensch 1945 in Deutschland, in Frankreich, in Europa, ja auf der ganzen Welt (ich verfalle ganz bewusst ins Pathos) vorstellen können, dass zweiundsechzig Jahre später der langjährige Bürgermeister einer kleinen hessischen Gemeinde für seine Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft mit einer vom französischen Staatspräsidenten unterzeichneten Urkunde zum Chevalier des nationalen Verdienstordens ernannt würde? Nie und nimmer! Und doch erschien es an diesem Sommerabend vor dem weißen Zelt auf dem Sportplatz von Airaines als eine pure Selbstverständlichkeit, dass ein französischer Parlamentsabgeordneter Herrn Dünte den (auch optisch eindrucksvollen) Orden ans Revers heftete und französische Honoratioren in Reih und Glied standen, um Paul Dünte die mit seiner Arbeit zu Recht verdiente Ehre zu erweisen. Und die Bevölkerung von Airaines und die Krifteler Gäste standen fröhlich und guter Dinge dabei, spendeten Applaus und feierten anschließend bei Gegrilltem, bei Bier und Wein und Gesang und Tanz die offiziellen 25 Jahre des jumelage, mit sprachlichen Schwierigkeiten hie und da, aber so, als wenn es nie anders gewesen wäre oder hätte sein können.
Dass es so sein konnte, ist vielen Menschen zu verdanken! Ich erinnere mich, ich war damals 14 oder 15 Jahre alt, an eine Karikatur, die Robert Schuman und Konrad Adenauer vor einer großen Bombe mit der Aufschrift „Saar“ zeigte, die sie beide zu entschärfen suchten; was ja auch gelang, wie wir wissen. Auch der große Europäer Jean Monnet ist zu erwähnen, der schon 1945 an eine Integration Deutschlands in die westliche Staatengemeinschaft gedacht hatte, als andere, die erst später große Europäer werden sollten, wie zum Beispiel Charles de Gaulle, noch eine Teilung Deutschlands in viele Kleinstaaten und die dauernde Kontrolle des Ruhrgebiets propagierten. Auch Carlo Schmid vertrat in der deutschen Sozialdemokratie mit Nachdruck den europäischen Gedanken, als diese noch mehrheitlich national orientiert war.
Es ließen sich noch viele Namen großer Politiker erwähnen, aber das könnte zu der Annahme verleiten, die Erkenntnisse der großen Politik seien allmählich bis zu den sogenannten kleinen Leuten durchgesickert, die sie dann übernommen hätten. Deshalb will ich vor allem auf die vielen ‚kleinen’ Menschen hinweisen, die aus den furchtbaren Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, die auch Bruderkriege waren, ihre Schlüsse zogen und an vielen Orten, in vielen Organisationen und Vereinigungen auf eine Aussöhnung und Freundschaft zwischen den beiden Völkern der Franzosen und der Deutschen hinarbeiteten. Ein großer Erfolg war jener Bewegung beschieden, die auf eine Begegnung der Menschen in Frankreich und Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa hinarbeitete. Dass heute an vielen Ortseingängen in den europäischen Staaten Schilder stehen, auf denen zu lesen steht, mit welchen Städten und Gemeinden in Europa man verschwistert ist, zeigt diesen Erfolg, auch wenn manches Schild eher auf Sammeleifer, denn auf gelebte Partnerschaft schließen lässt.
Doch gibt es auch andere Gründe, die die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ermöglicht haben.
Lassen Sie mich diese Gründe in einem historischen tour d’horizon skizzieren. Es muss bei der Skizze bleiben, denn wir werden dabei rund 1200 Jahre zurückgehen und einige Stationen etwas genauer beschreiben müssen.
In meiner wissenschaftlichen Arbeit über den Antijudaismus und Antisemitismus in deutschen Texten und den daraus erwachsenen Publikationen der letzten (rund) 35 Jahre habe ich mich vor allem auf zwei wissenschaftliche Methoden gestützt, die von französischen Gelehrten entwickelt und ausgestaltet wurden. Beide hängen eng zusammen. Ich will sie skizzieren.
Die eine geht davon aus, dass historische Ereignisse und Entwicklungen schlimmer wie guter Art zwar aktuelle Anlässe in Personen, Aktionen oder Konstellationen haben mögen, aber meist auch tiefere, den Akteuren nicht immer ganz bewusste, aber sie doch leitende Ursachen haben. Fernand Braudel, aber auch Georges Duby oder Jacques Le Goff haben dieses Phänomen l’histoire de longue durée genannt, die Geschichte von lang andauernden Vorstellungen und Entwicklungen, in denen die Menschen denken und handeln.
Eng damit verbunden ist die Erkenntnis, die schon angeklungen ist, dass nicht nur Fakten das Handeln von Menschen als Individuen oder als Glieder von Gemeinschaften bestimmen, sondern Vorstellungen und Erfahrungen, die in Geschichte, in Weltbildern und in Religionen, in Weltinterpretationen also überzeugend gedeutet werden und so handlungsanweisend wirken.
Die Geschichte unter diesen Aspekten zu sichten und darzustellen, ist nicht immer einfach, da – wie man sich denken kann – nicht ohne Weiteres herauszufinden ist, was die Menschen früherer Generationen gedacht und bedacht, was sie an Urteilen und Vorurteilen uns hinterlassen haben. Aber die Arbeit lohnt sich, denn sie gibt uns Einblick in Vorstellungswelten, die erst erklären können, was und warum etwas Geschichte wurde, deren Folgen das Leben und Handeln der Nachfahren in Übereinstimmung oder Widerspruch leiten. Beispielhaft für diese Weise, Geschichte zu verstehen, mag das Gesamtwerk des schon genannten, 2014 verstorbenen französischen Historikers Jacques Le Goff stehen.
Zurück, wie versprochen, in die Zeit Karls des Großen. Sie haben sich vielleicht gewundert, warum ich bisher immer wieder von Brudervölkern und Brudernationen, von Bruderkriegen gesprochen habe. Es ist immer wieder überraschend, wie überrascht manche Zeitgenossen reagieren, wenn man ihnen sagt, dass La France auf deutsch nichts anderes besagt als „Franken“ oder „Frankenreich“, selbst der Begriff Frankreich hat so manchen noch nie stutzen lassen. Oder wenn man ihnen bedeutet, dass Charlemagne und Karl der Große ein und dieselbe Person sind, die in beiden Nationen als einer der Väter ihres Landes wie des ganzen Abendlandes angesehen wird. Dabei braucht man sich bloß auf der Karte anzusehen, welche Länder am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterschrieben haben, mit denen der Kern eines vereinigten Europas geschaffen wurde: Es ist, mit erstaunlich geringen Abweichungen, das Frankenreich Karls des Großen, das sich über die Jahrhunderte im Bewusstsein der Völker als eine zwar immer fernere und damit schemenhaftere, aber dennoch existierende Vorstellung vom Abendland erhalten hat. Ich werde mich heute auf die beiden Kernvölker der Franzosen und Deutschen beschränken und gleich behaupten, dass es zur Zeit Karls des Großen weder Deutsche noch Franzosen gegeben hat, allen Versuchen nationalistischer Politiker und Historiker in beiden Ländern zum Trotz. Modern gesprochen war dieses Reich ein Vielvölker-, besser Viele-Stämme-Staat, der außer dem Kernreich der Franken auch die Territorien der Sachsen, der Bayern, der Alamannen, der Provençalen, der Langobarden und einige Grenzmarken umfasste. Die Sprachen, die in ihm gesprochen wurden, waren ebenso vielfältig und niemand kann behaupten, dass die Franken im Osten dieses Reiches oder die Alamannen ‚Deutsch’ gesprochen hätten, ebenso wenig haben die Bewohner des Reiches im Westen ‚Französisch‘ gesprochen. Die Sprache, in der staatliche Handlungen angeordnet und dokumentiert wurden, war ohnehin, und das noch für lange Jahrhunderte, die lateinische, die alle Gelehrten des Abendlandes noch über ebenso lange Jahrhunderte ganz selbstverständlich benutzten. Aber bald zeigte ein Phänomen Wirkung, das in der Welt der Franken als eine Selbstverständlichkeit angesehen wurde: Nach dem Tode eines Herrschers wurde dessen Erbe normalerweise unter dessen Söhnen geteilt, als sei es ein Hofgut. Es versteht sich von selbst, dass solche Teilungen, da sie von der Anzahl der regierungsfähigen Söhne abhängig waren, zunächst sehr variable Herrschaftsbereiche mit eher zufälligen Grenzen zur Folge hatten. Als Karl der Große 814 starb, war von seinen Söhnen Pippin, Karl, Karlmann, Ludwig, Drogo und Theuderich nur noch Ludwig übrig geblieben, der, 778 in der Nähe von Poitiers geboren, das Gesamtreich erbte und als Ludwig der Fromme oder Louis le Pieux in die Geschichtsbücher einging. Als er 840 starb (in der Pfalz Ingelheim am Rhein!), waren drei regierungsfähige Söhne da, unter denen das Reich sozusagen dreispaltig aufgeteilt wurde, Karl (II.) wurde König in Westfranken, Lothar erhielt den mittleren Teil (nach ihm hat noch heute Lothringen, Lorraine den Namen!), Ludwig (II.) wurde König in Ostfranken. Erst die national orientierte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat ihm dann den Namen ‚Ludwig der Deutsche’ gegeben. Noch im 10. Jahrhundert wurden die beiden Teilkönige (im Fall des Bonner Vertrages von 921) als rex Francorum occidentalium und als rex francorum orientalium bezeichnet, nicht etwa als deutscher oder französischer König. Doch Herrschaften und ihre Territorien, wenn sie denn lange genug bestehen, entwickeln beharrende Kräfte und Identitätsmerkmale, die im Laufe der Zeit sich entwickelnde Unterschiede betonen und als das wirken können, was wir heute vulgärsoziologisch ‚Alleinstellungsmerkmal’ nennen. Auch im Frankenreich vollzog sich diese Entwicklung, lange Zeit wohl weitgehend unbemerkt von den Völkern selbst, auch von den politisch Handelnden, und es war lange nicht deutlich oder gar sicher, dass aus den sehr variablen Teilreichen, die je nach Lebensschicksal der Könige auch mehrfach wieder in einer Hand zusammengefasst waren, eines Tages sicher identifizierbar ‚Deutschland’ und ‚Frankreich’ werden sollten.
Doch schon aus dem 9. Jahrhundert gibt es ein Dokument, das für einen Unterschied zwischen West- und Ostfrankenreich Zeugnis gibt, der erst viel später für die Identität von Franzosen und Deutschen wirklich konstitutiv wurde. Schon zwei Jahre nach dem Tod Ludwigs des Frommen verbünden sich die beiden Könige von West- und Ostfrankenreich, Ludwig und Karl gegen ihren den Kaisertitel tragenden Bruder Lothar. Sie schließen in der ‚Silbernen Stadt’, der Civitas argentina, die in der Volkssprache schon damals Strazburg genannt wurde, den Bündnisvertrag, der, damit ihn auch die fränkischen Heere der beiden nunmehr Verbündeten verstehen konnten, vom jeweils anderen König in deren Sprache verkündet wurde. Das heißt, Ludwig sprach im westfränkischen Idiom, Karl im ostfränkischen. Da später in der Sprachgeschichte sozusagen nach ‚hinten’ geforscht wurde, steht heute in den Geschichtsbüchern, Karl habe ‚Althochdeutsch’ gesprochen, Ludwig ‚Altfranzösisch’. Doch das ist ebenso richtig wie irreführend: Ludwig sprach das damals im Volk des Westfrankenreiches übliche, stark von der spätromanischen Sprache beeinflusste Westfränkisch, aus dem später das Französische wurde, Karl sprach rheinfränkisch, eine Sprache, die nur der Übersicht halber als ‚Althochdeutsch’ bezeichnet werden kann.
Dennoch: Wir haben es bei den sogenannten „Straßburger Eiden“ mit einem frühen Beispiel der sprachlichen Auseinander- und später weitgehend getrennten Entwicklung von Französisch und Deutsch zu tun. Aber, wie gesagt, das wird erst später wirklich relevant für das Selbstverständnis von Franzosen und Deutschen. Solange Latein die das Abendland einende Sprache ist (erst im 17. Jahrhundert werden an den Universitäten erste Vorlesungen in der Volkssprache gehalten!), können Gelehrte die später so undurchdringlich scheinenden Grenzen mühelos überschreiten. Der Angelsachse Alkuin ist so etwas wie der Kultusminister Karls des Großen, John of Salisbury, der große Staatstheoretiker des 12. Jahrhunderts, dient lange Jahre dem französischen König, Anselm von Canterbury, der große Theologe des beginnenden 12. Jahrhunderts, stammt aus dem Aostatal, wäre heute also Italiener, Thomas von Aquin, der italienische Adelsspross, wird in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Haupt der Pariser Theologenschule, sein Schüler Albert, den man bis heute Albertus Magnus nennt, ist ein deutscher Grafensohn, und noch der große, aus Pforzheim stammende Jurist und Humanist Johannes Reuchlin studiert in der Zeit um 1500 ohne Schwierigkeiten in Orléans und bereist Italien, ohne je in sprachliche Schwierigkeiten zu kommen, man spricht ja Latein.
Auch Herrscher konnte einer werden, ohne die Sprache seiner Untertanen (ganz) zu beherrschen. Niemand hat sich wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse aufgeregt, als nach dem Tode des Staufers Heinrich VI. der frühere Graf von York und dann Graf von Poitou in Westfrankreich, der Welfe Otto, von einigen Fürsten zum König gewählt und nach etlichen bürgerkriegsähnlichen Wirren nach dem Tode König Philipps von Schwaben 1206 tatsächlich deutscher König und römischer Kaiser wurde. Und kein Mensch hat sich darüber aufgeregt, als der Staufer Friedrich, der in Palermo aufgewachsen war und Latein sprach und Arabisch und die sizilianische Volksprache, aber kaum Deutsch, ebendiesen Otto mit Hilfe des französischen Königs besiegte und selbst (wieder) deutscher König wurde und als der berühmte Friedrich II. (in Italien: Federico il Suevo) in die Geschichte einging.
Als Kaiser Maximilian I. am Anfang des 16. Jahrhunderts seinen Tod herannahen fühlte, versuchte er auf dem Reichstag von Augsburg 1518 die Nachfolge zu regeln. Es gab zwei Bewerber um die Kaiserwürde. Der eine war König Francois I. von Frankreich, der andere König Carlos I. von Spanien. Beider Muttersprache war Französisch! Carlos hatte den einzigen Vorteil, dass er Maximilians Enkel war; aber er sprach nie richtig Deutsch (und war – wie ein penibler Historiker einmal ausgerechnet hat- ‚nur noch’ zu einem Zweiunddreißigstel deutscher Abstammung). Den Ausschlag bei den Kurfürsten gab aber weder die ‚Fremdheit’ Franz’ I. (der als Herzog von Mailand immerhin Fürst des Römischen Reiches war!), noch die Autorität Maximilians, sondern die Tatsache, dass Maximilian (und Carlos) den Kurfürsten mehr Geld und Privilegien bieten konnte, um sie auf seine Seite zu ziehen (um es vornehm auszudrücken!) als Franz I. Dass von Fremdheit, von Nationaldenken die Rede gewesen wäre, ist nicht überliefert. Es ging um Machtfragen zwischen den Dynastien der Valois und der Habsburger, aber nicht um Patriotismus oder gar Nationalismus. Aber heute gilt Carlos, der in der deutschen Form seines Namens, nämlich als Karl V. in die (zumindest deutsche) Geschichte einging, allgemein als ‚Österreicher’!
Auch die sogenannte ‚schöne’ Literatur wird bis ins 16. und 17. Jahrhundert hinein vorwiegend auf Latein geschrieben und, wenn erfolgreich, europaweit gelesen, die Poesie in den Volkssprachen, ob ‚Deutsch’, ‚Französisch’, ‚Italienisch’, hat lange und schwer gegen die Dominanz des Lateins zu kämpfen. Und es tut überhaupt nichts zur Sache, ob der Autor (in ganz seltenen Fällen: die Autorin) Deutscher oder Franzose ist; ja mancher volkssprachige Autor lässt seinem z.B. deutschen Text eine lateinische Übersetzung folgen, damit er auch im übrigen Europa gelesen werde, so geschehen etwa mit Sebastian Brants, des Straßburger Humanisten und Zensors (das schloss sich damals nicht aus!) „Narrenschiff“, der – neben den (lateinischen!) Dunkelmännerbriefen – berühmtesten europäischen Satire der frühen Neuzeit.
Aber auch, wo ‚Französisch’ oder ‚Deutsch’ geschrieben wurde, war noch lange nichts Nationales oder gar Nationalistisches zu finden. Der aus der angelsächsischen Geschichte erwachsene Artusstoff brachte es in Frankreich zur ersten Blüte, wurde nach Deutschland gebracht und erzeugt da weltberühmte Werke wie Wolframs von Eschenbach „Parzival“ nach dem (nicht erhaltenen) ‚Original’ des Chrestien von Troyes. Oder der Tristanstoff, der ebenfalls aus angelsächsischer Tradition stammt, in England zunächst auf Französisch geformt, dann von Gottfried von Straßburg am Anfang des 13. Jahrhunderts in ein Deutsch gebracht wurde, das an Eleganz erst Jahrhunderte später wieder erreicht wurde. Der Minnesang entwickelte sich aus heimischer wie französischer Tradition und ging später in die Volksliedtradition ein.
Gelegentliche Spöttereien gegen die anderssprachige Konkurrenz wie zum Beispiel in einem Spottgedicht des provenzalischen Dichters Peire Vidal wurden von einem deutschsprachigen Autor wie Walther von der Vogelweide (der um 1200 durchaus in Ungarn Konkurrent des Peire Vidal sein konnte!) ebenso spöttisch wie selbstbewusst auf- und angegriffen. Peires Angriff, deutsche Frauen und Männer seien etwas unbeholfen in höfischen Manieren kontert Walther mit den berühmt gewordenen Zeilen:
Tiusche man sint wol gezogen,
rehte als engel sint diu wip getan.
swer si schiltet, derst gar betrogen:
ich enkan sin anders niht verstan.
Tugent und reine minne,
swer die suochen wil,
der sol komen in unser lant, da ist wunne vil.
lange müeze ich leben dar inne!
Das hatte damals – ungefähr! – die Qualität des Spottes von Westdeutschen über die Sachsen, von Norddeutschen über die Schwaben. Aber die nationalen Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts machten aus dem eher harmlosen Streit zweier Literaten einen nationalen Konflikt und aus Walthers Strophe so etwas wie das Deutschlandlied des beginnenden 13. Jahrhunderts. Doch die Verhältnisse waren noch lange nicht so.
Im 17. Jahrhundert, noch vor dem Dreißigjährigen Krieg und dann während er vor allem in den deutschsprachigen Ländern tobte, orientierten sich sehr selbstbewusste deutsche Lyriker an französischen Vorbildern und schufen Regelwerke und Dichtung, die für lange Zeit in Deutschland normgebend waren. Ich meine die großen Lyriker Martin Opitz und Andreas Gryphius. Im 18. Jahrhundert wurde die Dominanz der französischen Kultur und Sprache gerade wegen der nicht nur politischen Katastrophe dieses Krieges so groß, dass Friedrich II. von Preußen, der ein Freund des philosophischen Aufklärers Voltaire war und wohl (wie viele deutsche Adelige seiner Zeit!) besser Französisch sprach als Deutsch, sagen konnte, die deutsche Sprache sei nur geeignet für einfache Leute wie Dienstboten und Pferdeknechte. Die deutschen Dichter Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller machten solchen Dünkel bald sehr fragwürdig. Dennoch hielt er sich in (auch bürgerlichen) ‚gehobenen’ Kreisen bis ins späte 19. Jahrhundert. Das bedeutete aber andererseits auch, dass es für die Eliten beider Nationen noch immer kulturelle Grenzen kaum gab, dass sie sich immer verstanden und rege austauschten; wobei häufig eine gewisse Dominanz Frankreichs (und Italiens) zu spüren war. Mitunter profitierte die deutsche Literatur auch direkt von Frankreich, ich erinnere nur an Louis Charles Adélaide de Chamissot de Boncourt, dessen Familie 1790 vor den Revolutionstruppen floh und in Preußen Aufnahme fand. In der deutschen Literatur ist er als Adelbert von Chamisso und Dichter von Peter Schlemihls wundersame[r] Geschichte bekannt. Und wer erinnert sich noch, dass der preußischste aller deutschen Dichter als Henri Théodore Fontane geboren und getauft wurde?
Doch so einseitig, wie es oft scheint, war der Kulturtransfer nicht.
Ich habe zu Anfang den Namen einer französischen Autorin genannt, den viele vielleicht nicht oder nur vom Hörensagen kennen mögen: Anne Germaine de Staël.
Sie war die Tochter des schweizerischen Bankiers und letzten vorrevolutionären französischen Regierungschefs Jacques Necker und – 1766 geboren – von Kind auf in der intellektuellen Oberschicht nicht nur Frankreichs beheimatet, eine genialische Frau mit vielen großen Talenten. Sie unterstützte nach 1789 zunächst die gemäßigten Revolutionäre und war beteiligt an der Ausarbeitung der ersten Verfassung von 1790. Als die Radikalen aber die Oberhand gewannen, musste sie in die Schweiz fliehen, wo sie auf dem Landgut ihrer Eltern lebte, das immer wieder ihr Refugium wurde. Sie veröffentliche als Schriftstellerin Theaterstücke, Romane, Novellen, Essays. 1796 nach Paris zurückgekehrt, entwickelte sie sich von einer glühenden Bewunderin Napoleons zu einer seiner schärfsten Kritikerinnen: Sie warf ihm – nicht zu Unrecht! – Verrat an der (gemäßigt) revolutionären Sache und diktatorische Tendenzen vor. Als Folge wurde sie bald zur persona non grata und musste immer wieder außer Landes gehen. 1803/1804 unternahm sie ihre erste, anfangs schon erwähnte Reise nach Deutschland, auf der sie bei Mainz die damalige, seit 1795 und bis zum Wiener Kongress bestehende Grenze Frankreichs zu Deutschland überschritt und in Frankfurt Station machte. Und wen traf sie da (also in Deutschland!) nicht alles – die crème de la crème derer, die wir (ich muss wohl sagen: Älteren) in der Schule als die Geistesheroen um 1800 kennen gelernt haben: Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Rahel Varnhagen, Friedrich Wilhelm Schelling, vielleicht auch Achim von Arnim.
Im Jahr 1800 hatte sie eine literaturtheoretische Schrift veröffentlicht, in der sie aufrief, die Literatur aus ihren gesellschaftlichen und sonstigen äußeren Bedingungen zu verstehen, und in der sie insbesondere ihre Landsleute dazu ermunterte, nicht nur die antike, mediterrane Kultur als Vorbild zu sehen, sondern den Blick auch auf die mittelalterliche Kultur Mitteleuropas (und damit Deutschlands) zu lenken. (Wer will, mag darin eine Parallele oder sogar Folge der Goetheschen Hinwendung zum Mittelalter und zu Shakespeare vom Anfang der Siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts erkennen). Diese Auffassung vertiefte sich bei ihren Reisen durch Deutschland (die zweite 1807/1808). Über beide Reisen verfasste sie einen Bericht: De l’Allemagne (Über Deutschland), der 1810 veröffentlicht, aber wegen seiner frankreichkritischen und deutschlandfreundlichen Haltung sofort nach Erscheinen durch die napoleonischen Behörden verboten und eingestampft wurde; auch ihr Manuskript wurde vernichtet. Doch der deutsche Romantiker August Wilhelm Schlegel, den sie im Frühjahr 1804 in Berlin kennen- und schätzen gelernt hatte (und als Hauslehrer ihrer Kinder gewonnen), hatte einen Satz der Korrekturfahnen gerettet, so dass sie es 1813 erneut drucken lassen konnte. Und nun begann es gerade im nachnapoleonischen Zeitalter Frankreichs seine Wirkung zu entfalten: Die französischen Intellektuellen und Dichter und Komponisten ließen sich in einer Weise von der deutschen Kultur, insbesondere der Romantik (und was man dafür hielt), beeinflussen, wie man es ein halbes Jahrhundert davor noch für unmöglich gehalten hätte.
Ich zähle nur aus der Musik einige Beispiele auf, da sie bekannter sein dürften als die literarischen und philosophischen. (Gerne weise ich dabei auch auf die Verdienste eines meiner Lieblingsdichter hin, der in Frankreich vor der Restauration in Deutschland Asyl gesucht und gefunden hatte, Napoleon verehrte und die französische Kultur und doch einer der ‚deutschesten’ Dichter blieb, den es gab und gibt: Heinrich Heine!)
1846 wurde Hector Berlioz’ Oper La damnation de Faust nach Goethes Faust uraufgeführt, der dann 1859 die in Deutschland berühmter gewordene Vertonung von Charles Gounod folgte. Wiederum Goethe lieferte den Stoff für Ambroise Thomas’ berühmte Oper Mignon, die 1866 in Paris uraufgeführt wurde (wir alle haben „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n“ im Ohr), Jacques Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen nach Texten und Motiven von E.T.A. Hoffmann) wurde ein Jahr nach seinem Tod 1881 in Paris aufgeführt, und Jules Massenet bildet (wenn man das berühmte und in Sonntagskonzerten beliebte Scherzo L’Apprenti Sorcier [Der Zauberlehrling] von Paul Dukas von 1897 nicht mitzählt) mit seiner Oper über Goethes Werther, die 1892 in Wien auf Deutsch uraufgeführt wurde, dann 1893 auf Französisch in Paris, sozusagen das Schlusslicht dieser Wirkungsgeschichte des Deutschlandbuches der Madame de Staël.
Man könnte stundenlang fortfahren und Belege für den regen Kulturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich aufzählen. Und man könnte in ein tief melancholisches Grübeln kommen, warum all dies nichts hat ausrichten können gegen die Propaganda der Nationalisten auf beiden Seiten. (Ein un-schönes Beispiel liefert wieder Carlo Schmid, wenn er vom Tag seiner Geburt [3. 12. 1896] in Perpignan „unter Trommelschall“ berichtet :
„Das meinem elterlichen Hause benachbarte Grundstück wurde von einem pensionierten Hauptmann der französischen Kolonialarmee, einem Bretonen namens Lecreps, bewohnt. Dieser im Waffendienst ergraute Krieger sah überall deutsche Spione am Werk. Kein Wunder: Es war die Zeit, da nahezu ganz Frankreich glaubte, ein Hauptmann der französischen Armee namens Alfred Dreyfus, dessen Familie aus dem Elsaß stammte, habe für die deutsche Botschaft in Paris spioniert. […] Unser Nachbar beobachtete meinen guten Vater, der nie Soldat gewesen war, auf Schritt und Tritt und fand immer neue Indizien, die seinen Verdacht bestätigten. Eine Anzeige bei der Sureté folgte auf die andere – freilich ohne jeden Erfolg. Der darob ergrimmte Kapitolswächter suchte nach einem anderen Weg, Frankreich von dem deutschen Geheimagenten zu befreien. Wenn die Polizei versagte, musste die Initiative des patriotischen Bürgers das Notwendige möglich machen! Und er fand ein probates Mittel: Jedesmal, wenn mein Vater sich zum Mittagsschlaf niederlegte, schritt der Capitaine a. D. mit einer Trommel bewaffnet zum Gartenzaun und schlug aus Leibeskräften den Generalmarsch. So geschah es auch an jenem 3. Dezember 1896, an dem ich das Licht der Welt erblickte. Dies ist der Grund, warum ich unter Trommelschall geboren wurde.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es vor allem die englisch und amerikanisch geprägte Kultur, die in (West-)Deutschland ihre Wirkung ausübte. Und doch darf man nicht vergessen, welchen Einfluss beispielsweise Antoine de Saint-Exupérys wunderbares Kinderbuch Le Petit Prince (Der kleine Prinz) auf deutsche Kinder (und inzwischen Erwachsene) mehrerer Generationen ausgeübt hat, welche Wirkung Albert Camus hatte, welche Jean-Paul Sartre, welche Jean Giraudoux, Jean Anouilh, Eugène Ionesco, Jean Genet, vom französischen Film, von den Chansons ganz zu schweigen.
Frankreich hat relativ lange gebraucht, bis es sich wieder der deutschen Kultur öffnete, vielleicht haben tatsächlich Daniel Cohn-Bendit, Ute Lemper und Karl Lagerfeld in dieser Hinsicht größere Verdienste als die ‚hohe’ Kultur, wie ein bekanntes Nachrichtenmagazin 2007 schrieb.
Ein großes Hindernis für den gegenseitigen Austausch ist geblieben, seitdem das Latein nicht mehr die verbindende Sprache ist und Französisch nicht mehr die dominierende: die Sprachbarriere in inzwischen allen Schichten unserer beiden Völker.
Deutsch galt und gilt in Frankreich, das seine Sprache ja ohnehin für die schönste der Welt hält, für ungeheuer kompliziert und kaum auszusprechen. Französisch galt und gilt in Deutschland, dessen Sprache sich immer mehr zum Denglisch wandelt, als ungeheuer kompliziert und kaum auszusprechen. Als im Jahr 2007 in Baden-Württemberg diskutiert wurde, ob man nicht im Grenzstreifen zu Frankreich, um die Verständigung zu erleichtern, Französisch als erste Fremdsprache einführen sollte, wurde der Vorschlag mit Recht kontrovers diskutiert. Aber die Begleittöne in Leserbriefen waren erschreckend. Man konnte den Eindruck gewinnen, Französisch sei so etwas wie eine schwere Krankheit, wenn nicht ein Folterinstrument. So schrieb eine Baden-Badnerin in einem Leserbrief: „Im ‚Kinderland’ Baden-Württemberg werden künftig sprachlich weniger begabte Gymnasiasten richtig gequält: Sie müssen Französisch als erste Fremdsprache lernen.“ (Die Dame hatte offenbar keine Vorstellung, wie schwer zum Beispiel auch Englisch wird, wenn man über das Anfangsstadium hinaus kommen will).
Ebenfalls 2007 schrieb eine bekannte Zeitung über dasselbe Thema, die beiden Völker säßen „heute verdrossen mit dem Rücken zueinander am Rhein, um dessen Ufer sie sich einmal so lebhaft von Angesicht zu Angesicht gerauft haben.“
Vielleicht kann die Verschwisterung so vieler Städte und Gemeinden dazu führen, dass die eine oder der andere im Lande Lust verspürt, die Sprache Voltaires zu lernen, aber wenn das abschreckt: Wie wär’s mit der Sprache des kleinen Prinzen?
Prof. em Dr. Winfried FREY, Kriftel