Ausgerechnet auf dem Brexit-Gipfel erklärt EU-Kommissionschef Juncker, das umstrittene Handelsabkommen Ceta an den nationalen Parlamenten vorbeischleusen zu wollen. EU-Regierungschefs sind empört.
Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs der EU nach dem Austrittsvotum der Briten ein klares Signal aussenden: « Wir haben verstanden. » Egal, wie die EU der Zukunft aussehe – sie müsse bürgernäher werden.
Doch dann kam EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Hinter verschlossenen Türen erklärte er den Staats- und Regierungschefs, das Handelsabkommen Ceta zwischen der EU und Kanada falle ausschließlich in die Kompetenz der EU – und solle deshalb ohne die Zustimmung der Volksvertretungen der Mitgliedstaaten beschlossen werden. Nur das Europaparlament müsste den Deal dann noch absegnen.
In den meisten EU-Ländern, darunter in Deutschland und Frankreich, dürfte das als Kampfansage betrachtet werden. Sie sehen Ceta als sogenanntes gemischtes Abkommen. Alle Bestandteile, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen, müssten von deren Parlamenten abgesegnet werden. Der Streit droht nun zu eskalieren – ausgerechnet in einer Frage der Volksbeteiligung und ausgerechnet kurz nach dem Austrittsreferendum der Briten.
Gabriel nennt Junckers vorgehen « unglaublich töricht »
Entsprechend heftig fällt nun die Kritik an Juncker aus. Dessen Vorgehen sei « unglaublich töricht », sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) dem « Tagesspiegel ». Das « dumme Durchdrücken von Ceta » werde alle Verschwörungstheorien bei anderen Freihandelsabkommen wie TTIP« explodieren » lassen. Sollte Juncker sich durchsetzen, sei auch das TTIP-Abkommen mit den USA tot – auch wenn es das inzwischen ohnehin zu sein scheint.
Österreichs Bundeskanzler Christian Kern fand ebenfalls deutliche Worte. « Juncker vertritt eine juristische Position », sagte Kern. Die Frage der Einbindung der Parlamente sei jedoch « hochgradig politisch ». « Das hier in einem schnellen Ruckzuck-Verfahren durchzusetzen, kostet die Europäische Union viel an Glaubwürdigkeit. »
Kritik kam auch aus dem EU-Parlament. « Die EU-Kommission hat den Schuss nicht gehört », schimpfte Reinhard Bütikofer, Chef der Europäischen Grünen. Junckers Vorhaben sei eine « frivole Anmaßung ». Bütikofers Parteifreund Sven Giegold warnte: « Egotrips der EU-Kommission sind Futter für die EU-Skeptiker. »
Juncker verteidigte sich am Mittwoch nach dem Ende des EU-Gipfels. Ob Ceta ein gemischtes oder ein EU-Abkommen ist, sei ihm persönlich « schnurzegal » – es handele sich dabei lediglich um eine juristische Frage, die zudem eine « Scheindebatte sei ». Denn inhaltlich habe niemand etwas an Ceta auszusetzen, das habe er bei den Regierungschefs « individuell abgefragt ». Im Übrigen sei das Ceta-Abkommen « das beste, das die EU je abgeschlossen hat ». Juncker forderte « eindeutige Rechtsmittel », die belegen, dass Ceta kein « EU only »-Abkommen ist.
Juncker warnt vor Lähmung der EU
Junckers Ansatz hat nicht nur Gegner. Die Befürworter des Vorhabens, Ceta als « EU-only » einzustufen, befürchten ein Scheitern des Abkommens, wenn die Parlamente in allen 28 Mitgliedstaaten zustimmen müssten. Verweigert sich nur eines, wäre der Handelsvertrag tot. Juncker warnte die Staats- und Regierungschefs für diesen Fall vor einer Lähmung der EU und einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust auf internationaler Bühne, hieß es in Brüssel.
Seine Sorge ist berechtigt: Eines der vier belgischen Regionalparlamente, die zustimmen müssten, hat sich bereits auf eine Ablehnung festgelegt. Bulgarien und Rumänien wiederum wollen eine Zustimmung mit Visa-Erleichterungen durch Kanada für ihre Bürger verbinden.
Dennoch bestehen auch andere EU-Länder seit Langem darauf, Ceta durch die nationalen Parlamente zu schicken. Nach dem Brexit-Referendum fühlen sie sich in ihrer Haltung klar bestätigt, und sie können mehrere Rechtsgutachten ins Feld führen. Doch auch die Kommission hat eine juristische Expertise erstellen lassen, und sie besagt, dass Ceta nahezu ausschließlich EU-Kompetenzen berühre.
Minister könnten die Notbremse ziehen
Sollte die Kommission nicht einlenken und Ceta als « EU-only » in den Europäischen Rat einbringen, droht dort massiver Ärger. Die Regierungen der Mitgliedstaaten könnten den Vorschlag zwar abändern und Ceta zu einem gemischten Abkommen erklären – doch dafür wäre ein einstimmiger Beschluss nötig. Der schien lange sicher, bis Ende Mai der italienische Wirtschaftsminister Carlo Calenda in einem Brief an Juncker signalisierte, dass sein Land ausscheren könnte.
Sollte das einstimmige Votum des Rats nicht zustande kommen, bliebe den Mitgliedstaaten als letzte Möglichkeit, Ceta vollständig zu blockieren. Denn der Beschluss benötigt eine qualifizierte Mehrheit – also die Zustimmung von mindestens 16 der 28 Mitgliedsländer, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung stellen. Eine solche Mehrheit dürfte aber zumindest aus Sicht der Deutschen nicht zustande kommen. Minister Gabriel kündigte für sich bereits an, das Ceta-Abkommen im EU-Ministerrat abzulehnen, sollte der Bundestag vorher nicht abgestimmt haben.
Kanzlerin Merkel kündigte am Dienstagabend an, den Bundestag in jedem Fall mit der Frage zu befassen. Zugleich bemühte sie sich, die Debatte nicht weiter eskalieren zu lassen. Die Kommission habe lediglich ihre Rechtsauffassung dargelegt, sagte Merkel. Das sei kein Grund, sie « an den Pranger zu stellen ».
Ceta gilt als eine Blaupause für das noch umstrittenere Handelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Die kanadische Regierung hofft auf einen 20-prozentigen Anstieg des Handels mit der EU. Kritiker warnen dagegen vor einer Schwächung des Verbraucherschutzes, sozialer Ungerechtigkeit und einem zu großen Einfluss der Wirtschaft. Die EU-Kommission hofft, Ceta vor Ende Oktober unterzeichnen zu können.
Von Markus Becker, Brüssel