Während der Anteil derer, die am Wahltag ihr Kreuzchen machen, in den Stadtteilen der Gut- und Besserverdienenden über die Jahrzehnte hinweg hoch blieb, nahm er insbesondere in jenen Quartieren dramatisch ab, in denen die benachteiligten Milieus stark vertreten sind. Nicht selten liegen bei der Wahlbeteiligung so zwischen den besseren und schlechteren Gegenden ein und derselben Stadt mehr als 30 Prozentpunkte. In Köln-Chorweiler oder Leipzig-Volksmarsdorf machten bei der Bundestagwahl 2013 kaum mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch.
Die Demokratie, so scheint es, ist auf dem Weg, sich zu einer Veranstaltung der Wohlsituierten zu entwickeln. Abgehängte und Verlierer werden in den Wahlergebnissen kaum mehr zureichend repräsentiert. Die Ressourcen-, Bildungs- und Artikulationsstarken, ohnehin gewiefter darin, ihren Interessen Nachdruck zu verleihen, werden zum vorrangigen Träger des Volkes Willens.
Mittels der Typologien der Milieustudien lässt sich der Nichtwähler nun samt seiner Einstellungen und Lebenswelten recht präzise vermessen. Was aber sind die Beweggründe für die Wahlabstinenz?
Die Legende vom unpolitischen Nichtwähler
Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu einem klaren Ergebnis: Dass jemand nicht zur Wahl geht, sei weniger ein Resultat von persönlicher Lethargie, Desinteresse oder gar Zufriedenheit mit dem Gang der Dinge. Vielmehr artikulierten die Nichtwähler ein deutliches Unbehagen mit der Art und Weise, wie Politik betrieben werde. Sie fühlten sich wenig beachtet, ungehört und beklagten, dass Politik nur mehr Machterhalt bedeute und die Repräsentanten für die « Sorgen und Nöte der kleinen Leute » kein Ohr mehr hätten.
Unpolitisch ist die Mehrheit der Nichtwähler laut der Untersuchung keinesfalls. Etwa 60 Prozent gaben an, die Bundespolitik weiterhin mit starkem Interesse zu verfolgen und sogar drei Viertel der Befragten interessierten sich nach eigener Aussage für das politische Geschehen in ihrer Kommune. Rund die Hälfte liest eine Tageszeitung und ebenso viele wissen, wer im Kommunalparlament für ihren Wohnbereich zuständig ist.
Wähler im Wartestand
Das Klischee des chronisch demokratieverdrossenen, politisch teilnahmslosen Nichtwählers fristet also in der Empirie eher eine randständige Existenz. Die « Dauer-Nichtwähler », also jene, die seit Jahrzehnten nicht zur Wahl gehen und dem demokratischen System wenig abgewinnen können, machen in der FES-Studie nur etwa 14 Prozent der Gesamtheit aus. Die größte Gruppe der Befragten, etwa die Hälfte der Nichtwähler, begreift sich dagegen als « Wähler im Wartestand ». Zwischen Wahl und Nichtwahl entscheiden sie situativ, je nach Personen- und Themenlage, wobei sie sich traditionell mehr Sozial- und Bildungspolitik wünschen.
Für die politische Teilhabe sind diese sporadischen Nichtwähler also keinesfalls verloren, doch bedürfen sie, wie es im Sprech der Wahlkampfstrategen und Politikmanager heißt, einer spezifischen Ansprache. Sie wünschen sich eine kümmernde Politik und den direkten Kontakt mit ihren Abgeordneten. Sie außer Acht zu lassen, darin sind sich die Demoskopen und Milieuforscher einig, wäre ein fatales Signal. Einer Demokratie, die den Idealen der Repräsentativität und politischen Gleichheit verpflichtet ist, sollte daran gelegen sein, dass auch die Schwachen mitmachen.