Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden: Die Überwachung privater Einzelpersonen aus Antiterrorgründen ist unzulässig. Der Schlag gegen Ungarns Überwachungspraktiken könnte EU-weit zu einer Vielzahl ähnlicher Urteile führen. EurActiv Brüssel berichtet. Die Überwachung privater Einzelpersonen aus Antiterrorgründen ist unzulässig. Das entschied am Dienstag, dem 12. Januar, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Richter bemängelten, es fehle an parlamentarischer Übersicht und Rechtsbehelfsmitteln im Überwachungsprogramm.
Der Europäische Gerichtshof hatte im vergangenen Oktober das 15 Jahre alte Safe-Habour-Abkommen zum Datentransfer zwischen der EU und den USA gekippt. Dabei berief es sich auf die ungezielten Überwachungsprogramme der US-Regierung. Der Gerichtshof kritisierte vor allem die fehlenden Rechtswege für Bürger, solche Praktiken anzufechten und Zugang zu ihren personenbezogenen Daten zu erhalten.
Mit dem Gerichtsentscheid gegen Ungarn kam es diese Woche zum ersten Mal seit dem Safe-Harbour-Urteil wieder zu einer größeren Entscheidung des Europäischen Gerichts zur staatlichen Überwachung in der EU. Vor dem Urteil hatte es bereits aufgrund der Einschränkung von Medien und NGOs heftige Kritik an der ungarischen Regierung gegeben. « Für uns ist es eine große Errungenschaft, dass man nun endlich bewiesen hat, wie niedrig der Schutz der Privatsphäre in Ungarn ist – verglichen mit den europäischen Mindeststandards », sagte Mate Szabo, einer der zwei Verteidiger im EGMR-Prozess.
Ungarn hat drei Monate Zeit, um die Verweisung des Falles an die Große Kammer des EGMR zu beantragen. Wenn die Entscheidung vom Dienstag das endgültige Urteil bliebe, müsste Ungarn seine Gesetzgebung ändern. So wäre es dazu verpflichtet, Sicherheitsklauseln aufzusetzen und Übersicht in die Überwachungstätigkeiten zu bringen.
Ein Sprecher der ständigen Vertretung Ungarns bei der EU verweigerte die Stellungnahme und sagte, die Regierung prüfe derzeit noch das Gerichtsurteil.
Infolge der jüngsten Anschläge befürworten einige Politiker eine verstärkte Tätigkeit der Geheimdienste und eine Reduzierung der Hintertüren in Verschlüsselungstechnologien. Doch während politische Entscheidungsträger noch über diese Maßnahmen diskutieren, von denen sie sich eine Einschränkung der Terroranschläge versprechen, stapeln sich beim EGMR die Klagen gegen staatliche Überwachung.
In Laufe der letzten Jahre haben die EU-Richter der staatlichen Überwachung nicht viel Unterstützung zukommen lassen. « Nach einem Jahr der Terroranschläge in Europa ist es ein ermutigendes Zeichen, dass der EGMR den Schutz der Privatsphäre nicht senken wollte », so Szabo, derzeit Programmdirektor beim ungarischen Verband für Bürgerrechte.
Die in Szabos Prozess vorgebrachten Einwände « gehen gegen die Gesetze und Praktiken so mancher europäischer Staaten, welche zunehmend auf modernste Technologien setzen, um im Namen der Terrorismusbekämfpung massenhaft Kommunikationsüberwachung zu betreiben », so Tomaso Falchetta, Rechtsexperte der Londoner NGO Privacy International. Seine Organisation sandte dem EGMR eine schriftliche Intervention im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gerichtsentscheid.
Offene EGMR-Prozesse
In mehreren Fällen, die derzeit noch ein Urteil der EGMR-Richter erwarten, geht es um die Überwachungsenthüllungen Edward Snowdens. Drei der noch offenen Verfahren hatte man zwischen 2012 und 2015 gegen Großbritannien eingeleitet. Der Grund: Zusammenarbeit mit der US-Regierung im Rahmen ihrer Überwachungsprogramme. All diese Prozesse nehmen Bezug auf Edward Snowden.
In seinem jüngsten Jahresbericht listete der EGMR Ende 2014 einen Rückstand von 69.000 ausstehenden Verfahren auf. Bisher ist es EurActiv nicht gelungen, die Zahl der noch offenen Datenschutzprozesse in Erfahrung zu bringen.
Einige Datenschutzexperten sagen, das Szabo-Urteil könnte einen Präzedenzfall schaffen und noch mehr Beschwerden zur Überwachung in anderen EU-Ländern anziehen. « Diese gerichtliche Entscheidung ist so bedeutend, weil sie die Unübersichtlichkeit in einem EU-Mitgliedsstaat bemängelt. Dieses Urteil ließe sich in zahlreichen anderen Mitgliedsländern wiederholen », erklärte TJ McIntyre, Vorsitzender der NGO Digital Rights Ireland. 2014 hatte der EGMR im Falle dieser NGO ein Urteil gegen die irischen Behörden gefällt und somit die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für unzulässig erklärt.
McIntyre zufolge zeige das EGMR-Urteil dieser Woche, dass sich die Urteilsbilanz des EGMR beim Thema Datenschutz zunehmend der des EuGH nähert. « Es ist ein deutliches Zeichen, wenn der EGMR eine entschiedene Haltung gegen invasive Ausspähmethoden und insbesindere die Massenüberwachung einnimmt », betonte er.
EurActiv.com | Catherine Stupp übersetzt von Jule Zenker